Wallfahrt – Marienverehrung als Zeugnis des Glaubens und der Heilung

Die Schmerzhafte Muttergottes in der Nische vor dem Alterraum

Es soll nun ein Blick in die besondere Ausdrucksform der menschlichen Spiritualität erfolgen. Möchte man auf die Jahrhunderte Gotteserfahrung in der Menschheitsgeschichte zurückblicken, wird man vermutlich feststellen, dass es kein Volk ohne Religion gibt. Als homo religiosus und animal symbolicum wird der Mensch bezeichnet. Er bedient sich seiner symbolischen Sprache, die ihm den Zugang zum Göttlichen zu eröffnen vermag. Mit anderen Worten: Das Religiöse ist dem Menschen von Natur aus mitgegeben. Es ist eine Grundfrage der menschlichen Existenz, nämlich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Dieses Leben entsteht einmal und schwindet; es blüht auf wie eine Blume und geht ein. Die Sorge um das Leben treibt die Menschen auf die Suche nach Antworten auf existentielle Fragen. Sie machen sich auf die Suche nach besonderen Orten, Orten des Heils und der Gnade, wo sie Kraft finden können für die Bewältigung schwieriger Lebenssituationen.

Prozession von Obertiefenbacher Gläubigen in der Schupbacher Straße

So versteht sich auch die Kirche als wanderndes Gottesvolk, d.h. als Gemeinschaft von Gläubigen, die auf dem Pilgerweg durch die Zeit sind. Sich auf den Weg zu Gott machen, losgehen, um bei sich anzukommen ist eine uralte Erfahrung, die alle Weltreligionen teilen. Gerade in diesem Bereich erlebt man das Wiedererwachen bzw. die Wiederkehr des Religiösen, eine Art „Renaissance der Religion“. Die Frage, die sich hier stellt, scheint anzudeuten, wie sich in den noch jungen Kirchen ein Wallfahrtswesen entwickelte. Ohne eine wissenschaftliche Auslegung der Wallfahrt darzustellen, scheint es mir angebracht zu fragen, was motiviert und bewegt die Menschen, das gewohnte Leben zu unterbrechen, um Orte der Stille, des Gebetes, der Einsamkeit, der Geborgenheit aufzusuchen.

 

„Gott auf die Spur kommen“: Wallfahrt und Gotteserfahrung

Es ist nicht leicht abzugrenzen, was genau der Begriff Wallfahrt bzw. Pilgerfahrt ausmacht. Obgleich die Auswirkung derartiger religiös motivierter Fahrt oder Wanderung zu einer heiligen Stätte auf die Stärkung des persönlichen Glaubens abzielt, bleibt der Gedanke einer Wallfahrt getragen von der Erwartung eines Gewinns religiöser Erkenntnis: Man erhofft sich die Heilung von Krankheiten, erfleht die Hilfe in persönlichen Notlagen. Nicht die eigene Darstellung steht bei der Wallfahrt im Vordergrund, sondern die Idee einer Gotteserfahrung, dem verborgenen Gott nah zu sein: seine Gegenwart bewusster zu erfahren. Der missionarische Auftrag Jesu lautet: die Welt zu retten, den Menschen das Heil Gottes erfahren zu lassen. „Gott auf die Spur kommen“ heißt das Motto, das Leitwort der Wallfahrten, aber auch der ständigen Suche des Menschen der heutigen Zeit im Alltag.

Ankunft der Prozession am Eingang des Kapellengartens

Das Schicksal bzw. der Kreuzestod des Heilbringers Jesus aus Nazareth, Friedensfürst genannt, hat offenkundig die Volksfrömmigkeit geprägt. Seine Basileia-Botschaft (Reich Gottes) suchte die Transformation, die Verwandlung der damaligen Gesellschaft, die darauf baute, in Jesus eine neue Ära zu sehen. Das Verschwinden von Augenzeugen der Taten Jesu sowie der Apostel, die ja unmittelbare Nachfolger waren, gab vermutlich Anlass, ihre Gräber aufzusuchen. Sie wurden seit dem vierten Jahrhundert im Christentum zu heiligen Orten, zu den Stätten der biblischen Offenbarung. Innerhalb der spirituellen Bewegungen der ersten Christen versucht man den Beginn der Wallfahrten zu bestimmen. Es ist offensichtlich, dass die christliche Tradition die Kultur der jüdischen Pilgerfahrten zum Tempel von Jerusalem zu den Zeiten der Pilgerfeste (Pascha-Rituals) im Leben des Volkes Israel übernommen und abgewandelt hat. Es lässt sich nämlich ein Ideal festmachen, das im Kern der Wallfahrtstradition im frühen Mittelalter steht: die Reinigung des inneren Menschen, der das Gewand seiner Sünden ablegen soll, um Heilung zu erlangen und Gott sehr nah zu sein.

 

Das Verständnis der Wallfahrt (lat. Peregrinatio=Leben in der Fremde) eröffnet ihre grundlegende Bedeutung für die Menschen von heute insofern, als sie den Ort darstellt, an dem man von Gott den Schutz erfährt, ihm für ein Ereignis im Leben danken wollte. Dieser Gedanke kann uns mancherorts nicht vor kommerziellen Entgleisungen (Missbräuchen) und politisch-strategischen Einflüssen (Kreuzzüge) bewahren. Denn im Mittelalter etablierte sich das Pilgerbrauchtum allmählich zu einer Institution, die zur Einnahmenquelle für die heimische Wirtschaft wurde. Es wurden besondere Einrichtungen für Kranke, medizinische Behandlungszentren, Hospize geschaffen. Man könnte dazu geneigt sein zu sagen: das heutige Touristenwesen scheint die Wallfahrten zu ersetzen!

Prozession von Niedertiefenbacher Pilgern vor der Klosterruine Beselich

In seinem 2009 erschienenen Bestseller „Ich bin dann mal weg“ beschreibt Hape Kerkeling, Deutschlands vielseitigster TV-Entertainer, die reinigende Kraft der Pilgerreise, die er erlebte und die Strapazen einer Wallfahrt, die er über 600 Kilometer durch Spanien bis nach Santiago de Compostela auf sich nahm und ihn zum Grab des Heiligen Jakob führten. Vom Gedanken der Entäußerung und Entleerung („kenose“) der eigenen Seele bis zum bitteren Verzicht auf eigenen Nutzen geführt sind viele Menschen, die die Gräber der Apostel Petrus und Paulus in Rom, die Stätten des Heiligen Landes und das Grab des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela aufsuchen. Die Reliquien und die Gräber von Heiligen erweisen sich in der heutigen Zeit als Vergegenwärtigung der göttlichen Macht, Quelle besonderer Glaubenskraft.

 

Marienverehrung in der Geschichte

Auch erwähnenswert scheint mir in diesem Zusammenhang die Marienverehrung, die im Christentum eine geschichtsträchtige Bedeutung aufweist. Ihre erhabene Stellung nahm sie bereits in den Anfängen des zweiten Jahrhunderts ein, obwohl diese frühchristliche Zeit unter dem Einfluss der von der römisch-katholischen Kirche fremd erscheinenden und nicht approbierten Glaubenslehre stand. Durch die Anerkennung des Christentums als Staatsreligion im Römischen Reich im Jahre 391 n. Chr. – durch den Kaiser Constantin – gewann die Verehrung der Märtyrer und Mariens zunehmend an Bedeutung. Darüber hinaus eröffnete dieser Staatsakt im Jahr 431 den Weg zum Konzil von Ephesus das Maria als „Gottesgebärerin“ oder „Gottesmutter“ bezeichnete und dogmatisierte. Der Kern der inneren Diskussionen und der theologischen Auseinandersetzungen jener Zeit suchte zu klären, ob Jesus Christus die menschliche Natur sowie die göttliche besessen hat. Die weitere Entwicklung dieser Zeit des Umbruchs und des Aufbruchs zeigt, dass sich nach dem Konzil eine intensive Verehrung Mariens, die mit dem alttestamentlichen Bild der „Himmelskönigin“ verglichen wird, entfaltet hat.

 

Die theologische Reflexion des 5. und 6. Jahrhunderts knüpfte an jene Stellen im Neuen Testament an, in denen Maria als Mutter Jesu oder die Mutter des Herrn betrachtet wird (Mt 1,18; Mt 2,11; Lk 1,43; Lk 2,34 ; Joh 2,1). Man bediente sich vielfältiger marianischer Titel, die in den Marienfesten und -gebeten verankert sind. So entstanden z. B. das Grundgebet der katholischen Kirche, Ave Maria („Gegrüßet seist du, Maria“) und das älteste Mariengebet der Kirche. Die Stellung Marias begünstigte im Zuge der Missionierung eine ausgeprägte Volksfrömmigkeit, die in der Gestalt Mariens eine ansprechbare Partnerin fand. Ferner rief die Reformation einerseits Tendenzen hervor, die die Mittlerstellung Mariens zu untergraben suchten. Anderseits entfaltete die seit den 1580er Jahren erlebte volkstümliche Marienverehrung neue Kräfte und Impulse, die sämtliche geistliche Stätten zu Marienwallfahrten erklärten, wie zum Beispiel die Gnadenkapelle in Altötting in Bayern. Darin zeichnen sich offenbar die Anfänge zahlreicher Marienwallfahrten aus.

 

Kapelle Beselich als Wallfahrtsort: Ort der Stille und der Gnade

Den Schilderungen der Geschichte der Kapelle Maria Hilf zu Beselich zufolge verdankt diese Stätte ihr neues Leben der Initiative und der Willenskraft des Franziskaner-Eremiten Georg Niederstraßen (mit dem Ordensnamen „Leonhard“ genannt), der am 8. September 1767 die Kapelle auf dem Beselicher Kopf durch den Obertiefenbacher Pfarrer Johannes Löhr (1765-1809) auf den Namen Maria Hilf und zu Ehren der heiligen Vierzehn Nothelfer weihen ließ. Die Menschen brechen zur Wallfahrt auf aus der Überzeugung, „sich in ihren Hoffnungen und Sehnsüchten, ihren Enttäuschungen und Entbehrungen auf dem Weg des Lebens, im Unterwegssein, im Verwiesensein auf Transzendenz zu erfahren“. Angesichts der langwierigen Streitigkeiten und politischen Turbulenzen, die Europa im 18. Jahrhundert der erfahren hat, schien der Beginn des 19. Jahrhundert der von Leid und Kriegen gebeugten Bevölkerung eine neue Spiritualität zu erschließen. So stellt das legendäre Jahr 1802 den ersten Moment dar, in dem die Prozessionen zur Wallfahrtskapelle ihre Anfänge nahmen.